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Die alte Bahnstrecke neu entdecken24/9/2023 Von Basel nach Lugano in weniger als drei Stunden – das ist seit der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels im Jahr 2016 möglich und hat uns in der Nordschweiz die Sonnenstube Tessin ein gutes Stück nähergebracht. Seit einiger Zeit jedoch ist diese erst der hohen Kosten und des verzögerten Bau wegens verschmähte, inzwischen aber heiss geliebte Highspeed-Bahnverbindung unterbrochen. Kein Eintauchen in den Berg mehr in Erstfeld, um dann rund eine halbe Stunde später weit unten im Tessin in Biasca wieder ans Tageslicht zu kommen.
Stattdessen tuckert die Bahn auf einmal wieder gemächlich über die Bergstrecke, die von den SBB inzwischen werbewirksam als Panoramastrecke angepriesen wird. Wie war die Sorge gross in Göschenen, aber auch südlich des Gotthards in Airolo, als den ehemals blühenden Bahndörfern durch den Bau der neuen Alptransitverbindung der Sturz in die Bedeutungslosigkeit drohte. Man ging davon aus, dass nun alle mit dem Zuge reisenden Klugen tief unten und erst noch geografisch nach Osten versetzt unter ihrem Berg durchrauschen würden und die Restaurants, Hotels und Geschäfte entlang der Bergstrecke schliessen müssten. Diese Bedenken sind sicher auch sieben Jahre nach der Eröffnung des Basistunnels nach wie vor berechtigt. Schliesslich tuckert der Zug zwar vorübergehend wieder gemächlich den Dörfern entlang – doch halten tut er zwischen Altdorf und Bellinzona nirgends. Für uns Reisende hingegen wird der Umweg, der zwischen Basel und Lugano immerhin rund eine Stunde ausmacht, zur Nostalgiefahrt. Je nachdem, in welche Richtung man fährt, geniesst man zuerst den Blick auf die imposanten, schroffen Felswände im Urnerland und nach dem Tunnel die satten Wälder und unzähligen Wasserfälle und Rinnsale im Tessin. Als Fan des HC Lugano hat das Ganze allerdings einen Haken. Da man nun nicht mehr weit unten in Biasca, sondern wieder oben in Airolo aus dem Tunnel kommt, fährt man auch wieder in Ambrì-Piotta vorbei. Eine „Attraktion“, auf die ich seit der Eröffnung des Basistunnels sehr gerne verzichtet habe ... Aber zurück zu den positiven Aspekten des Bergstrecken-Revivals. Dazu gehören für mich ganz klar die verschiedenen Kehrtunnels, die uns Reisende innert kurzer Zeit eine gewaltige Höhendifferenz überwinden lassen. Schauen spätestens seit Emils „Chileli vo Wassen“ Gross und Klein wie gebannt dreimal in Folge auf den Kirchturm, bleibt den meisten wohl verborgen, wie ungleich eindrücklicher es ist, auf diesem Abschnitt einen Blick auf die Führung der Bahnlinie zu werfen. Zwischen zwei Ebenen – oder eben zwischen Chileli von unten, auf gleicher Höhe und von oben – liegen jeweils happig viele Höhenmeter. Dass ein Zug in der Länge einer heutigen Reisekomposition diese Unterschiede scheinbar mühelos, ohne Vorspann und ohne Zahnrad-Antrieb überwinden kann, ist der Glanzleistung zweier Personengruppen aus dem vorletzten Jahrhundert zu verdanken: Einerseits den grossartigen Ingenieuren um Louis Favre und andererseits den zahllosen unter schwersten Bedingungen und in ständiger Lebensgefahr schuftenden Arbeitern, welche die gigantische Menge an Gesteinsmasse aus dem Berg gesprengt und gehauen haben. Mögen die Dörfer entlang der Bergstrecke vom vorübergehenden Unterbruch der Basislinie wenig profitieren, so erinnern wir uns aber immerhin an eine bauliche Glanzleistung, die niemals in Vergessenheit geraten darf. Erinnern wir uns auch daran, wenn wir hoffentlich bald wieder mit Hochgeschwindigkeit unter den Alpen hindurchbrausen und Ambrì-Piotta bloss noch als winziger Fleck auf der Landkarte existiert.
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Quia prouva da notar ün pêr observaziuns sur dal minchadi o minchatant perfin meis impissamaints filosofics per rumantsch. Archiv
August 2024
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